2022: Eine Jahresrutschreview

Liebes Tagebuch,

Willkommen im Jahr 2022! Das ist schon ein Jahr mehr als 2021. Verrückt, wie die Zeit vergeht! Vor ein paar Tagen konnte ich noch den Witz machen, dass ich nächstes Jahr wieder duschen werde, jetzt muss ich witzeln, dass ich zuletzt vergangenes Jahr geduscht habe. Rede mal einer über die Hektik des modernen Lebens! Nichts mit Entschleunigung oder Musse.


Ich bin, wie so oft, seit mir einzelne graue Haare aus den Schläfen spriessen, unspektakulär ins neue Jahr gerutscht. Gemütliches Beisammensein und das Schlagerprogramm, das immer an Silvester im Fernseher läuft, haben die Lust nach ausschweifenden Parties endgültig im Keim erstickt, und das mag ich sehr.

Mit einer Menge an lecker Raclette, die einen bosnischen Flüchtlingskonvoi in den frühen Neunzigern hätte ernähren können, wartete ich mit der Familie auf das Ende von Zwanzigeinundzwanzig und den Beginn von Zwanzigzweiundzwanzig. Mit den Beilagen hätte man eingekesselte Städte zusätzlich noch Monate am Leben erhalten können. In der Glotze beschallten uns Francine Jordi, Schweizer Schlager-Aushängeschild und Jörg Pilawa, Moderator, mit dem üblichen Geplapper, das die Hirnregionen in ruhige, windstille Gewässer schippern lässt. So muss das Jahr ausklingen, unaufgeregt und moralisch unbedenklich. Francine Jordi und Jörg Pilawa können das gut - man muss weder hinsehen noch hinhören, und doch saugt das Unterbewusstsein das belanglose Wohlgetue wie ein Schwamm auf. Nur manchmal ergreift einen die Fremdscham, wenn ein zum Leben erwecktes Skelett auf die Bühne gezerrt wird und nekromantisch am Leben erhalten Rock 'n' Roll singen muss zum Beispiel.

Aber das lässt sich verkraften, vor allem mit viel Käse im Bauch. Ich hatte genau für diesen Anlass meine elastische, mit Lichterketten bedruckte Trainingshose angezogen, die ich zum Trainieren aber nie anhabe - wie auch, denn ich trainiere ja gar nie. Die Hose passte sich meinem nach und nach grösser werdendem Bauch optimal an, ich konnte also unbesorgt reinstopfen, bis mir fast alles wieder aus den Ohren kam. Und aus den Ohren kommen sollte es dann auch, zumindest fast, doch dazu später mehr.

Irgendwann kam der Countdown, dann das neue Jahr, auch diesmal ohne Feuerwerk, denn wir wissen ja alle, die Welt wird heimgesucht von Corona, der Beulenpest unserer Zeit, und man sollte immer zu Hause bleiben, ausser wenn man zum Arbeiten gehen muss, dann geht das schon.

Um das neue Jahr gebührend einzuläuten, wenn schon kein Feuerwerk durch den Himmel zischt und pfeift, schaltete ich auf den kroatischen Sender meines alternden Fernsehers, um zu sehen, was meine Landsleute so gucken beim Rutsch ins neue Jahr.

Ergebnis: Der Sender ist derzeit nicht verfügbar.

Also schaltete ich um zur zweiten Wahl, zu den anderen Kroaten - ihr versteht schon, ich rede vom serbischen Sender. Da lief die Party in Form eines Zusammenschnitts alter Silvestersendungen. Aufgetakelte Frauen und Männer sangen sich die Seele aus den Leibern. Geschmackvoll wohlgemerkt, und weitaus besser gemacht als die Sendung von Francine Jordi. Aber wie ich schon sagte: Den Jahreswechsel sollte man unaufgeregt begehen, und spätestens als die Berufskriminelle und ehemalige Kriegsverbrechergattin Ceca im Schneeköniginnenkostüm auf der Bühne stand und sang, war es an der Zeit, abzuschalten.

Dabei möchte ich die Frau nicht in Sippenhaft nehmen. Die Liebe fällt bekanntlich nun mal dorthin, wo sie eben hinfällt, und wenn sie halt volle Kanne auf den Kopf eines schwerstkriminellen ex-Hooligans hinab saust, der sich später zu einem der grössten Anführer krimineller Freizeitkrieger und Schlächter auf dem Balkan hocharbeiten sollte, dann ist das eben so. Mittlerweile ist der Mann eh verstorben, vor Jahren nach einer "Abrechnung im kriminellen Milieu", wie man in solchen Fällen so schön sagt. RIP in Frieden, sage ich da nur!

Ich schlummerte an jenem 1. Januar dieses Jahres schliesslich in einen friedlichen Schlaf. Ich träumte von Schlager und erhitztem Käse und Silberzwiebeln und Kriegsverbrechern.

Einen Tag später aber sollte mich dann das grosse Erbrechen heimsuchen. Und während ich abends mit Freundin N. Eyes wide shut mit Nicole Kidman und Tom Cruise guckte, kotzte ich mir in mathematisch korrekten Halbstundenabständen die geistige Unversehrtheit aus dem Leib. Das lag aber nicht am Film, ich mag Tom Cruise trotz seines religiösen Wahns, der Mann kann schauspielern und ist sehr engagiert und Nicole Kidman ist auch in Ordnung, der Film ist durchwegs spannend bis auf das antiklimaktische Ende aber sonst wirklich sehenswert, sondern an einer Magendarmgrippe.

So habe ich mein Zwanzigzweiundzwangig eingeläutet, mit dem lieblichen Klang gewaltvollen Hochwürgens gegen alle Gesetz der Schwerkraft, und dem Rauschen der Toilettenspülung.

Es kann nur besser werden, kann es nicht?


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