Danke dem zuständigen Bundesamt für meinen Ausweis

Liebes Tagebuch…
Ich habe Fanpost gekriegt. Die Leute fragen mich, warum ich schon lange nichts mehr geschrieben habe. Ob ich in irgendeinem gottverlassenen Krankenhaus mit abblätternder Fassade meine letzten Stunden zähle, mein Körper geschwächt vom Coronavirus, mein Geist trüb und taub vom drohenden Ableben. All das ist nicht der Fall! Ich bin gesund und schlecht gelaunt, so wie meistens. Ja, die Haare werden langsam grau an den Schläfen und ich huste mich jede Nacht in einen leichten Schlaf, doch abgesehen davon erfreue ich mich bester Gesundheit und auch mein Geist ist stark und in sich ruhend wie ein Maelström. Des Todes!

Auf die Frage, warum ich schon lange nichts mehr geschrieben habe, gibt es also nur eine Antwort: Keine Lust gehabt! Andere Schreiberlinge kennen das. Die grösste Angst des Schriftstellers ist die vor dem leeren Blatt Papier. Auch ich kenne das, und dann vergeht mir die Lust wie der Appetit, wenn ich Spiegeleier am Morgen rieche. Noch mehr Angst habe ich allerdings vor Papier, das mit Gleichungen und mathematischen Formeln beschrieben ist. Ja, ich habe Mathematik in der Schule vollkommen verkackt, und zwar “so schlecht wie keiner”, um es in den Worten Sidos auszudrücken. Warum ich das so offen zugebe? Weil es mich nahbar macht, menschlich - man sieht: Auch ich bin nicht so perfekt, wie ich immer scheine. Das ist wichtig, gerade auch für meine Leser, für die ich ein gottgleiches Wesen bin, das einen Text nach dem anderen auf’s virtuelle Papier rotzt.
Ich bin doch auch nur ein Mensch! Das steht so explizit zwar nicht auf meinem Ausweis, aber man sieht an meinem Gesicht, dass ich definitiv nicht zu einer anderen Spezies gehöre.
Übrigens habe ich meinen Ausländerausweis nach langen 5 Monaten des Wartens vor einigen Tagen endlich per Post zugestellt bekommen. Bis ich ihn in der Hand hielt, plagten wirre und schreckliche Träume, die dem Lovecraft’schen Universum entsprungen sein konnten, meine ruhelosen Nächte. Ich sah im Traum, wie ich mich in einer lieblos-grauen Turnhalle eines Primarschulhauses in Trachslau oder sonstwo vor Lokalpolitikern der Schweizerischen Volkspartei nackig machen musste, wegen “genauerer Untersuchungen”, oder wie die Ausländerpolizei meine Wohnung stürmte, mich meinem warmen Bett und dem familiären Umfeld entriss und mich zurück nach Kroatien, oder, schlimmer noch - Bosnien, deportierte. Was hätte ich dort tun sollen? Mein Magen ist nicht mehr an das deftige bosnische Essen gewöhnt, das Internet ist langsam und meine ganze Verwandschaft ist doch auch ausgewandert. Ich wäre allein gewesen in unserem mässig beheizten Haus und hätte den ganzen Tag, in nostalgischer Erinnerung schwelgend, Schweizer Fernsehsender geschaut und irgendeinen billigen Fondueabklatsch aus zum Schmelzen vollkommen ungeeigneten Käsesorten aus der Herzegowina verzehrt. In null komma nix hätte ich mir eine massive Darmverstopfung zugezogen, die nicht mal mehr ein Exorzist oder mein wirklich übertriebener Konsum säurehaltiger Süssgetränke hätten austreiben können. Und dann, in den Sommerferien, wenn meine Eltern und die ganze Verwandschaft zu Besuch gekommen wären, hätten sich mich tot auf der Couch gefunden, allein und elendig verendet mit einem Stück Brot, das mir aus dem Mundwinkel hängt. Und auf dem Fernsehbildschirm flimmert Anna Rossinelli als Voice of Switzerland-Jurorin rum. Eine schreckliche Vision, gerade auch, weil Anna Rossinelli darin vorkommt.
Und was hätte ich in Kroatien getan? Den ganzen Tag im Meer gebadet und abends frische Meeresfrüchte gegessen? Bei schönem Wetter wohl schon, aber was ist, wenn es kalt ist und regnet? Soll ich mich dann etwa den ganzen Tag in unserem Haus im Städtchen am Meer einschliessen und mich der geistigen und körperlichen Musse und der Schriftstellerei hingeben, machmal auch dem entfesselten Hedonismus, den Blick auf unseren Olivenbaum und das türkisblaue Meer gerichtet, während sich die Gewitterwolken majestätisch über den Gipfeln des Biokovo hinter unserem Haus türmen?

Dass ich nicht lache! Zum Glück habe ich meinen Ausweis wieder!

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