Mein Nachbar Tot-ale Umverteilung-Oro

Liebes Tagebuch,


Ich werde jetzt etwas richtig schweizerisches tun: Mich über meinen Nachbarn beschweren. Im Normalfall würde ich nicht wegen meiner Nachbarn oder anderer Menschengattungen lamentieren, Gott sei mein Zeuge. Ich bin im alltäglichen Leben der Typus “leben und leben lassen”: Sei laut, sei hässlich, sei Transgender oder Cis, sei fett, schmücke dich mit allen Pronomen, die du haben möchtest, nur behellige mich damit nicht. Aber mit einer zehn Monate alten Tochter sinken die sozialen Toleranzschwellen, sie sinken gewaltig. Jeden Abend, wenn ich und meine Freundin das kleine Wesen, das im derzeitigen Zustand mehr oder weniger ein hyperaktives Haustierchen ist und auf jedes Geräusch und jeden Impuls wie ein wildgewordenes Kätzchen reagiert, ins Bett bringen, erklingt vom Balkon der hippen wie-ich-annehme Studentenwohnung aus dem Gebäude gegenüber das gesellige Palaver, das mich in den Wahnsinn treibt und meine Tochter des Schlafes beraubt, und mich damit meiner abendlichen quality time.



Das sommerhafte Wetter treibt diese Leute, die wahrscheinlich bis Mittag ausschlafen können und nicht vom Wecker um 05:30 in die elende Leichtigkeit des Seins zurückgeholt werden, an die frische Luft und in das zauberhafte Reich Balkonien. 


Ein Exemplar unter meinen Nachbarn geht mir dabei besonders auf die - verzeiht den Ausdruck - Eier. Er hat eine wirklich penetrante Sojajungen-Stimme, die im Hinterhof hallt wie der Gesang der Lakota in den Canyons der nordamerikanischen Wildnis. Wenn er sich nicht mit seinen hippen Mitbewohnern unterhält, lässt er auf dem Balkon auf seinem Laptop sozialistische Propaganda laufen. Darin geht es um Umverteilung, die Niederträchtigkeit des kapitalistischen Systems, die Ausbeutung der Arbeiterschaft. Ich würde ihm gerne die Fresse polieren, obwohl ich ihn noch gar nie live gesehen habe. Wahrscheinlich studiert er Sozialwissenschaften oder Gender Studies, ich sollte also nicht zu hart zu ihm sein, das Leben wird ihn schon genug strafen. Aber kennt dieser Unmensch das Konzept von Kopfhörern nicht? Wahrscheinlich nicht, Sozialisten sind aber auch nicht dafür bekannt, besonders helle zu sein.


Ich habe mir auch schon überlegt, Landser laufen zu lassen oder Hitlers Rede an die Jugend, so als Abschreckung, aber ich will auch nicht, dass er mich aufgrund dessen zu einem ungeduschten Neonazi mit schlechten Zähnen und Männerbrüsten reduziert. Schlechte Zähne und einen Hauch von Männerbrüsten kann ich schon vorweisen, die Gesinnung aber fehlt mir, um dieses Vorhaben wirklich in die Tat umzusetzen. 


Ich könnte natürlich auf den Balkon gehen und ihm das nächste Mal etwas zurufen, wie zum Beispiel: Sei leise, du Ficker! Aber ich bin im echten Leben jemand, der vulgäre Konfrontationen scheut. Als Waage und melancholisch angehauchter Herbstmensch habe ich ein immenses Verlangen nach Harmonie und Frieden, Streitigkeiten und Zwist sind mein Ding nicht. Und dass ich immer im Recht bin, weiss ich sowieso, auch ohne es anderen, niedrigeren Wesen unter die Nase zu reiben.


Meine leise Hoffnung ist, dass mein sozialistischer Nachbar Tot-ale Umverteilung-Oro diesen Text zufällig im Internet findet, liest und sich eingesteht, dass er ein Grobian ohne Umsicht und mit komplett verdrehter Weltanschauung ist. Aber am wichtigsten: Dass er einfach einmal leise ist!


Besten Dank im Voraus.

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