Eine tiefgründige Theorie

Eines in Alkohol und Müdigkeit getränkten Morgens erläuterte mir Cousin T. folgende Theorie: Es gibt auf der Welt zwei Arten von Menschen: Diejenigen, die nach dem Masturbieren erschöpft und ausgelaugt sind und diejenigen, die daraus Energie schöpfen.

In jenen frühen Stunden des anbrechenden Tages - der Himmel hatte sich schon in ein sanftes rot gehüllt - hatte diese Erkenntnis eine ungeheure Sprengkraft, denn sie schien so klar und richtig und absolut. Ich ärgerte mich ein wenig, dass ich nicht der war, der sie ausgesprochen hatte.

Jetzt allerdings muss ich sagen, dass der Mensch so leicht nicht einzuteilen ist. Die Welt ist nicht schwarz und weiss und der Mensch, der die Welt formt, ist es noch weniger. So machte auch ich mir meine Gedanken und kam zur folgenden Erkenntnis: Es gibt tatsächlich zwei Arten von Menschen, so weit bin ich mit Cousin T. einig, so wie ich in fast allem mit ihm einig bin, denn eigentlich sind wir mehr als nur Cousins, immerhin, und das sage ich jetzt offen, um nebenbei auch ein wenig Partei für die gefährdeten Schwuchteln in Russland zu ergreifen, hat er als einziger Mann meine private Zone berührt, wenn ihr versteht, was ich meine. Der Aussage mit dem Masturbieren kann ich aber im Nachhinein nicht beipflichten, denn die Wirkung des Masturbierens auf die Befindlichkeit ist meiner persönlichen Erfahrung nach auch sehr von der Tagesform, von der konsumierten Nahrung und vielen anderen Faktoren abhängig. Es gibt da einfach viel zu viele Variablen, die eine Pauschalisierung nicht zulassen. Deshalb sage ich: Ja, es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, und zwar jene, die Arschlöcher sind und jene, die nicht ganz so grosse Arschlöcher sind. Das klingt ziemlich negativ, aber es ist nahe an der Wahrheit.

In der Schweiz zum Beispiel, in der ich nun schon viele Jahre lebe, weil uns das Schicksal damals aus der Heimat jenseits des Adriatischen Meeres hergeführt hat, gibt es eine grosse Zahl von Arschlöchern, jene der expliziteren Art, um uns klar zu verstehen. Es ist nicht die Ausgeburt meines Kopfes allein, die mich verleitet, so etwas über das Land zu sagen, in dem ich im Grunde weiter nichts als ein Gast bin. Es ist die Erfahrung. Und ein weiteres Mosaikstückchen im Wandbild der Erfahrungen war der Bericht über die Asylanten in Solothurn, die den unterirdischen Bunker verliessen, in den man sie zu Beginn gesteckt hatte, um dann am Bahnhof Solothurn gegen ihre, wie es hiess, menschenunwürdige Unterbringung zu protestieren. Ich weiss nicht, wie menschenunwürdig die Unterbringung tatsächlich ist. Auf den Bildern, die im Blick publiziert worden sind, sah das Ganze nicht so schlimm aus. Ich weiss auch nicht, wie viele der besagten Asylanten aus tatsächlicher Not in dieses kleine Land gekommen sind, in dem der Horizont der Menschen manchmal nicht weiter reicht als die Aussicht, wenn man am Fuss des Matterhorns steht. Ich weiss nicht mal, ob ich Mitleid mit diesen Menschen empfunden habe, als ich den Artikel gelesen habe. Was ich aber weiss, ist, dass ein Grossteil der Kommentatoren im Blick über das Ereignis Gedanken freien Lauf gelassen haben, die, würde man sie in wahre Materie verwandeln, pures Gift und Galle wären. Die harmlosesten Meinungsäusserungen bezeichneten die Asylanten als Parasiten und Wirtschaftsflüchtlinge oder forderten sie auf, dorthin zurückzukehren, wo sie anscheinend viel besser leben würden. Die dümmsten Leser aber sprachen von ihrer Zeit im Militär, als sie wochen- und monatelang in solchen Bunkern ihre Zeit verbrachten. Was in diesem Hochmut und dieser Ignoranz vergessen geht: Die Männer, von denen ich jetzt ausgehe, dass es wirkliche Asylanten sind, die aus echter Not heraus ihre Heimat verliessen und im Bunker landeten, spielen nicht Militär für ein paar Monate, im Wissen, dass sie später zurück nach Hause können, sondern harren in einem Zustand, getrennt von ihren Familien und aus ihrer vertrauten Umgebung entrissen, nicht wissend, wo Vorgänge, die die wenigsten von ihnen verstehen, sie hintragen werden. Diese Männer also, die fast sprichwörtlich das Licht am Ende des Tunnels nicht sehen können, werden in einen Betonklotz ohne Fenster unter die Erde gesteckt. Und ihre Forderungen als anmassend und arrogant betitelt. Wo bleibt die Differenzierung, wo bleibt vor allem das Mitgefühl, ich rede nicht einmal vom Mitleid, mit jemandem, vor der genrellen Brandmarkung als Parasit, als Dieb und menschlicher Abschaum.

Ich kann mich dunkel an ein Ereignis aus meiner Kindheit erinnern. Wir lebten damals in Bosnien in einem Dorf, das wenige Kilometer entfernt von der Front lag, an der mein Vater stationiert war. Damals war noch der Krieg im Gange. Eines Tages zog ein Kovoi durch dieses kleine Dorf, das aus wenigen Häusern bestand, die an der Strasse aneinandergereiht lagen. Jeder sah die Lastwagen, in deren von dunkelgrünen Planen bedeckten Anhängern die Flüchtlinge sassen, die aus irgendeiner gefallenen Stadt in den Westen zogen. Meine Mutter auch. Unter den Flüchtlingen war ein Junge, wohl im gleichen Alter wie ich damals. Sie ging zu ihm hin, stieg in den Lastwagen und gab ihm einen Spielzeughelikopter; meinen, einen weissen mit schwarzem Grund, auf dem das Wort Police stand. Ich erinnere mich heute noch klar und deutlich an dieses Spielzeug, das sie diesem Jungen mitgegeben hatte. Sie erzählte mir ein paar Mal, wie ich deshalb getobt und geweint hätte. Viele Jahre später, als ich das hörte, schämte ich mich. Heute wäre ich froh darum, wenn ich diesem Jungen den Helikopter persönlich gegeben hätte. Ich würde ihm den Helikopter, irgend etwas, jetzt geben, wenn er als Flüchtling neben meiner Wohnung vorbeigehen würde. Ich würde ihm lange nachsehen und versuchen, mir vorzustellen, wie er mit dem Ding spielt und für einen Augenblick die Lage, in der er ist, vergessen kann.

Die Leute, deren Kommentare man heute im Blick liest, die an Stammtischen in Kneipen und im Gespräch mit Freunden Gift und Galle spucken, sind die selben Arschlöcher wie das kleine Ich, das damals tobend und fluchend seinem Helikopter nachtrauerte. Man sollte solche Attitüden aber mit einem gewissen Alter ablegen. Man will ja nicht sein Leben lang ein Riesenarschloch sein. Vor allem dann nicht, wenn man selbst in einem Land lebt, wo Milch und Honig fliessen, wo man für Arbeit sein Geld kriegt und sich bei Pfeiffgeräuschen nicht ducken muss, wie es unsere alte Nachbarin in diesem kleinen bosnischen Dorf immer tat. Man sollte denen geben können, die nicht haben. Man muss keine Freude dabei haben, man muss die Leute nicht mal mögen. Man muss aber wissen, dass es etwas jenseits der Grenzen dieses Landes gibt; etwas, das aus Elend und Armut und Krieg besteht. Etwas, vor dem Menschen tatsächlich flüchten müssen, weil sie eben müssen, und nicht, weil sie in der Badeanstalt schweizer Töchter belästigen wollen. Irgendwann wird man sonst voller Scham auf all das zurückblicken. Aber im Nachhinein, das weiss man, ist es zu spät.

Die Asylanten vom Bahnhof Solothurn

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