Ehret das Leben, denn YOLO
Ich bin heute fast
erfroren, weil mich meine Freundin draussen auf dem Balkon vergessen
hat. Vergessen werden ist nicht schön, man fühlt sich unbedeutend,
ungeliebt, man ist verletzt. All jene, die schon mal vergessen worden
sind, wissen, wovon ich rede. Dabei war ich nur kurz draussen. Eine
rauchen. Die erste Zigarette am Tag; die vor dem Frühstück und vor
dem Kaffee ist immer die Beste. Warum, das weiss ich nicht.
Vielleicht, weil sich die geteerten Lungen nach der Ruhe der Nacht
nach dem braunen Gold, wie die Ureinwohner Amerikas Tabak nennen,
vielleicht, sehnen. Wenn dann der Rauch durch die begierigen Lungen
strömt und die äussersten Kapillaren des Atemorgans erreicht, dann
ist das wie das Wiedersehen einer Geliebten, die man lange Zeit nicht
gesehen hat. Schmetterlinge im Bauch.
Doch eben, diese
verdammten Schmetterlinge haben mir fast das Leben gekostet. Ich
stand draussen in der Kälte, meine Freundin hatte die Balkontür
geschlossen und den Griff zugedreht. Dann ging sie duschen. Ich war
schon lange mit der Zigarette fertig als sie, nur mit einem Handtuch
bekleidet, ins Wohnzimmer kam und mich, an der Fensterscheibe
klopfend, stehen sah. Vielleicht hatte ich sogar schon blaue Lippen,
gezittert habe ich gewiss. Wirre Gedanken schwirrten eine Zeit lang
in meinem Kopf umher; ich sah an mir runter, warf einen prüfenden
Blick auf meine Arme und Schenkel. Wie viel Fleisch gaben sie her, wo
musste ich den Schnitt ansetzen, um mich nicht gleich umzubringen,
wenn es hart auf hart käme und ich mich von meinem eigen Fleisch und
Blut hätte ernähren müssen? Ich hatte leider keinen Hund dabei wie
der Amerikaner, der seinen verspeisen konnte, als er sich in der
Wildnis verirrt hatte. Glücklicherweise kam es nicht hart auf hart.
Sie, meine Freundin, wenn sie nach dieser Aktion überhaupt noch
diesen Titel verdient hatte, kam mit einem Blick, der um Vergebung
und Absolution flehte, auf die Tür zu und liess mich rein. Ich hätte
noch knapp eine Stunde ausgehalten, bevor es Frühstückszeit wäre,
und dann, Gott behüte, hätte einer meiner Schenkel über die Klinge
springen müssen. Denn auch in Extremsituationen gilt: Ein
ausgewogenes Frühstück muss sein.
Als ich wieder in
der Wohnung stand und mich von meinem Nahtoderlebnis zu erholen begann,
erkannte ich, wie wertvoll das Leben eigentlich ist, wie kostbar der
Schatz, den dieses allmächtige Wesen, dieser Gott, uns gab. Ich
schwor mir, meine Zeit nicht länger zu vergeuden oder meine
Gesundheit abschätzig zu behandeln. Ich schrieb mir YOLO hinter die
Ohren: you only live once! Einmal! Man lebt nur einmal! Ausser man
ist Buddhist, aber als Wurm oder Katze wieder auf der Erde zu landen,
ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Diverse Wiedergeborene werden
das bestätigen. In der Zwischenzeit habe ich mit dem Schreiben eines
kommerziell erfolgreichen Romans begonnen, hoffe ich zumindest. Wenn
die 25-jährige Sasha Grey, vormals professionelle Samenschluckerin
und Sexarbeiterin das kann, kriege auch ich das hin. Ich habe noch
keine klare Vorstellung von den Charakteren oder der Handlung, doch
ich bin mir sicher, dass auch Sasha am Anfang den Wald vor lauter
Schwänzen nicht sah... Ich meine natürlich vor lauter Bäumen,
nicht Schwänzen. Bäumen!
Die Devise lautet
jetzt: nach vorne schauen. Zurückblicken bringt nichts, es kann gar
schädlich sein, wenn man sich vor Augen führt, wie viele vergeudete
Stunden man hinter sich hat, die man in den Dienst der Menschheit
hätte stellen können. Beispielsweise die neunzig Minuten Solaris
mit George Clooney gestern Nacht oder die ungezählten Stunden
voller niedlicher Katzen auf youtube. Genauso gut hätte ich
dem Gras beim Wachsen zusehen können. Es ist eine Schande! Schluss
mit solchen Dingen. Denn YOLO, lieber Leser, YOLO!
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