Die Schwäche

Ich will nicht um den heissen Brei herum reden. Ich gebe es zu. Ich habe sie mir geholt. Habe sie nicht weit entfernt von meinem Arbeitsplatz gefunden und gleich mitgenommen. Sie war billig, sehr billig. Ihr Aussehen machte mich nicht mal sehr an. Wirklich nicht. Sie sah zu sehr nach Osteuropa, vielleicht Rumänien, aus. Ich hatte einfach Lust, hatte schon länger keine von ihrer Sorte gehabt. Kann man es mir denn verübeln? Kann man mich deswegen kreuzigen? Sie war richtig gut, verdammt gut. Trotz ihres Aussehens, trotz ihres Preises. Ich habe mich danach schlecht gefühlt. Ich hing mit dem Kopf über der Toilettenschüssel. Ich wollte mir sprichwörtlich die Seele aus dem Leib kotzen danach. Ich hasste mich dafür, dass ich schwach geworden war. Verdammt noch mal, ich bin doch so hungrig gewesen!

Ja, ich sage es gerade heraus. Ich habe sie mir geholt, na und? Im Aldi für 1.55 Franken. Fast ein halbes Kilo Lasagne. Der Inbegriff von Billigware. Lasagne Bolognese. Gemäss Zutatenliste war das einzige Fleisch, das sie enthielt, Rindfleisch. Dass ich nicht lache. Ich hörte die Pferde wiehern, wenn ich sie nur ansah, wie sie da im Tiefkühlregal in ihrem schäbigen Karton lag, der in der Mikrowelle, später, als ich sie zubereitete, fast auseinander gefallen war. Doch ich griff nach ihr. Meine Brieftasche war fast leer, ein paar Tage noch bis zum Lohn. Zu diesem Zeitpunkt sind die einzigen Bewohner meiner Brieftasche ein paar Rappen, ab und zu kriegen sie Besuch von den Cents aus dem benachbarten Deutschland. Ihr versteht: Meine Brieftasche ist Mitte des Monats so leer wie die kroatische Riviera im Winter. Ich hatte kaum eine andere Wahl. Ein halber Arbeitstag lag noch vor mir.

Ich hatte doch die Zeitungen gelesen, im Internet hatte ich es gesehen. Die Abscheulichkeiten dieses Pferdefleischskandals. Nie und nimmer, sagte ich mir, will ich im Leben Pferdefleisch essen. Wie zum Teufel kann man nur ein so majestätisches Tier, das zudem Hauptdarsteller in mindestens einem Film ist, den ich gesehen habe, essen. Nein; Kühe isst man, Schweine isst man, aber ein Pferd frisst man! Es ist abscheulich und verwerflich. Ich schwor, von nun an genau darauf zu achten, was ich esse, um nicht darauf reinzufallen. Ein Pferd hätte mir im Magen schwerer gelegen als Jupiter, der fetteste aller Planeten unseres Sonnensystems.
Und dann kommt so ein Moment der Schwäche. Man greift nach dieser Lasagne und geht, wie in Trance, zur Kasse, gibt dem Kassierer das Geld, der genervt die Augen verdreht, weil er eine Faust voll Rappen abzählen muss, man schmeisst sie in den Sack und geht raus und achtet darauf, dass niemand einen sieht, wie man mit dem Sack in der Hand und diesem Sakrileg in Form eines italienischen Gerichts darin über die Strassen huscht, mit gesenktem Kopf, um bloss nicht erkannt zu werden. Der Himmel war blau an diesem Tag, doch in mir drinnen, dunkelste Nacht!
Ich sehe der Lasagne zu, wie sie sich in der Mikrowelle dreht. 10 Minuten. So lange braucht sie. Kling! macht ein Glöckchen, ich öffne die Tür und will sie rausziehen, dabei reisse ich fast eine Seite der billigen Kartonpackung weg. Ich nehme das heisse Stück auf meinen Platz. Ich steche die Gabel in den geschmolzenen Käse, führe die Gabel ins Maul, zur Zunge hin. Sie schmeckt... gut. Ja, sie schmeckt tatsächlich gut, obwohl sie glibberig und ungesund aussieht. Ein wunderbarer Geschmack bemächtigt sich meines Mundes, der zuvor so danach schrie, mit Nahrung gefüllt zu werden. Doch die Bilder, die in meinen Kopf schiessen:

Ich sehe eine schier endlose Landschaft, darauf sanft sich im Wind wiegendes Gras, das mir bis zur Brust reichen würde, so hoch: die ungarische Puszta. Und in der Weite der Landschaft stolze Pferde, die auf ihren Rücken Hirten tragen.

Ich sehe Slawonien, einen strahlend blauen Himmel, darunter ein kleines Dorf. Auf der Mitte des Dorfplatzes ein edles, braunes Pferd, mit Blumen beschmückt für ein bevorstehendes Kirchweihfest. Kinder tanzen um das Tier herum und singen mit lieblichen Stimmer Lieder, die ich nie zuvor gehört habe.

Ich sehe die Sandstrände und das wogende Meer Südfrankreichs. Ich sehe Frauen und Männer, deren Haare wild im Wind flattern. Sie sitzen auf dem Rücken weisser Pferde, deren Hufe über das flache Wasser donnern.

Scheiss drauf. Ich kann das nicht. Ich kann das nicht. Ich nehme nach ein paar Gabeln die Lasagne und gehe mit einem Gefühl im Bauch, als müsste ich demnächst erbrechen, in die Küche und schmeisse sie weg.

Habe ich jetzt Pferd gegessen oder habe ich nicht. Ich hasse mich.

Tief in der Nacht, als ich schlafe, sehe ich ein Pferd; ich blicke in seine schwarze Augen, die wie grosse Perlen aussahen. Es sitzt an einem Tisch, zwischen den Hufen hat es eine Gabel und vor sich einen schäbigen Karton, der mit einer glibbrigen Masse, ich erkenne eine Lasagne, gefüllt ist. Neben der Lasagne liegt der Deckel der Packung. Auf dem Deckel bin ich abgebildet. Ich lache und zeige mit dem Daumen nach oben. Aus meinem Mund scheint eine Sprechblase zu kommen, darin steht: Ich bin reich an Eisen und sehr fettarm! Iss mich!

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