Etikettenschwindel

Zwei bedeutende Ereignisse haben den furiosen Auftakt zu dieser Woche gebildet: Der Papst, Gottes Stellvertreter auf Erden, tritt zurück und, ziemlich zeitgleich, stellt sich heraus, dass in den Findus-Lasagnen statt Rindfleisch Pferde gelandet sind. Noch dazu sollen es minderwertige Pferde aus Rumänien gewesen sein, dabei wollen wir weder Menschen, und ganz sicher kein Vieh, aus Rumänien in unseren idyllischen Gefilden sehen. Das also sind die vielgepriesenen Vorzüge eines offenen Europas: undeklariertes Pferdefleisch in italienischen Traditionsgerichten. Bleeeh.

Natürlich blieben entsprechende Reaktionen in den Medien nicht aus: Wegen dem Etikettenschwindel bei den Lasagnen ging, ziemlich geschlossen, ein Aufschrei durch's Land. Auch bei der Sache mit dem Papst war man ziemlich gleicher Meinung: Der alte Kauz ist weg, jetzt hat die Kirche mit der Wahl eines neuen Papstes die Möglichkeit, einen Reformer auf den Petrusstuhl zu setzen; einen, der die Kirche modernisiert, der der Abwanderung ihrer Schäfchen entgegentritt; vielleicht, sagen einige, wird es sogar ein Schwarzer.

Ich verstehe die Menschen nicht: Immer schreien sie nach Reformen, nach Veränderungen. Bei der Kirche, bei den staatlichen Institutionen, aber wenn sich mal bei der Zusammensetzung von Lasagne etwas ändert, sind alle empört. Immer schreien sie nach Veränderungen, diese Menschen. Tagsüber arbeiten sie in Werbeagenturen, in Büros in der Innerstadt und an Bankschaltern, abends gehen sie in ihre Wohnungen und trinken, um den Tag ausklingen zu lassen, ein Glas Wein, während im Hintergrund Popscheisse aus den Boxen ihrer Stereoanlagen dröhnt, und immer, immer schreien sie nach Veränderungen. Die Kirche sehen sie vielleicht ein, zwei Mal im Jahr aus dem Inneren, an Ostern und Weihnachten möglicherweise. Dennoch, sie schreien nach Veränderungen, wollen, dass die alten, konservativen Strukturen verschwinden und einer liberalen, modernen Gesinnung Platz machen. Ihrer Gesinnung, diesem Einheitsbrei, den sie der Welt aufzwingen wollen.

Sie vergessen aber eines. Ich weiss nicht, ob es ein Phänomen ist, ein Überbleibsel eines in Kulturen Zentral- und Westeuropas verankerten Kolonialherrendenkens, dass man meint, die eigene Meinung sei die einzig Wahre und Richtige. Diese Menschen, die die Kirche ihrer Gesinnung konform machen wollen, erkennen nicht, aus Verblendung über die eigene Bedeutung vielleicht, dass die Geschichte der Kirche schon längst nicht mehr hier, in Zentraleuropa, geschrieben wird. Sie wird geschrieben in Südamerika und Afrika, wo ein Grossteil der Menschen lebt, die die Gemeinschaft der Katholiken ausmachen. Dieses Gros will keine Reformen, sie will keine aufgeweichten Strukturen, wie sie etwa die reformierte Kirche hat. Dieses Gros wächst mehrheitlich in ärmlichen Verhältnissen auf, von staatlicher Wohlfahrt unerreicht und oftmals fern geordneter Verhältnisse. Ihre Stütze ist die Kirche; eine starke Kirche, mit festgelegten Strukturen und einem definierten Ritus, der - es braucht nicht viel, um das zu verstehen - den Menschen all das bietet, was sie nicht haben.

Meine Eltern kamen Anfang der neunziger Jahre aus dem heutigen Bosnien-Herzegowina in die Schweiz, mit mir als Kleinkind im "Gepäck". Bevor Jugoslawien zusammenbrach, lebten sie in einem strukturschwachen Gebiet, das der Willkür der kommunistischen Herrscher ausgesetzt war. Die Kirche bot Zuflucht und Schutz, und, obwohl sie rigoros unterdrückt wurde, genauso wie ihre Anhänger, erstarkte sie gerade im Vorgang des Zerfalls des Vielvölkerstaates und der Jahre danach zu einer fast unheilvollen Macht, die sich im Elend der Jahre zuvor genährt hatte.

Die Menschen, die nach Reformen schreien, verstehen diese Zusammenhänge nicht. Sie kennen das Elend nicht und die Not genauso wenig. In ihrer Stumpfheit sind sie blind für die Bedürfnisse jener, die diese Umstände sehr wohl kennen und jeden Tag davor, um es biblisch auszudrücken, Erlösung suchen. Diese Menschen, die nach Reformen schreien, lassen die Simpelste aller Tatsachen ausser Acht: Die Kirche wird sich nicht einer schwindenden Minderheit anpassen, sie wird sich denen anpassen, die in grosser Zahl auf sie als Stütze und Rettung zählen und damit ihr Fundament bilden. Das ist die Kirche: Eine Kongregation der Armen, der Schwachen und Unterdrückten, denn sie sind unablässig für eine starke Kirche; ebenso wie eine starke Kirche unablässig für sie ist.

Reformen, Aufweichungen... All das wäre Etikettenschwindel. Dem Papst gebührt Respekt für seine Weitsicht und Anstrengung, nicht ein belehrender Fingerzeig und der alles umfassende Zynismus der Abgestumpften, die sich in dem Sumpf suhlen, den sie fälschlicherweise als Aufklärung sehen.

Etikettenschwindel...? Im Falle des Pferdefleischlasagnen hat das doch auch schon niemand gemocht.

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