Ich kam, ich sah, ich weinte

S. hat mir neulich ein Video geschickt, in dem junge Thurgauer über ihren Heimatkanton rappen.
S. ist Künstlerin, sie studiert, wir gingen zusammen auf's Gymnasium. Sie ist, politisch, so wie ich sie kenne, aussen links, sie schimpft auf den Staat und die Konsumgesellschaft. Wenn andere über iPhones reden und die Funktionen der Produkte von Apple preisen, dann kritisiert sie die Lage der Arbeiter, die die Rohstoffe für die Smartphones aus den dunklen, engen Schächten unter der Erde Afrikas fördern müssen. Und wie es sich gehört für jemanden, der das, was er sagt auch ernst meint, hat sie kein iPhone, sondern ein wirklich schäbiges, altes Nokia. S. hat das Herz am rechten Fleck und ich bin in vielen Punkten ihrer Meinung, in noch mehr Punkten bin ich ganz anderer Meinung, doch das spielt keine Rolle, den ich finde sie nett, lustig und sympathisch. Zudem ist S. die exotischste Person, die ich kenne, denn sie stammt aus Ägypten. Sonst kennt man nur Leute, die dort Ferien machen und dann langweilige Geschichten ("Die ägyptischen Männer glotzen einen wirklich ständig an") und hässliche Stoffkamele mitbringen, die Jingle Bells singen, wenn man draufdrückt. Wie selten aber sieht man eine wahre Vertreterin dieser alten, ehrwürdigen Kultur in unseren Breitengraden! Kurzum, ich finde S. spitze.

Korrektur: Ich fand sie spitze. Bis sie mir an jenem Abends dieses Video schickte. Ich glaube, sie wollte von mir hören, dass ich das Video lächerlich finde und dass ich die Leute darin veralbere. Aber nicht mit mir.
Nicht dieses Mal!

Vielleicht lag es am vielen Wein, den ich an jenem Abend getrunken hatte, vielleicht am Gras, das ich geraucht hatte. Meine Freundin M. hatte ihre Studentenkollegen zu Besuch gehabt und als guter Gastgeber wollte ich den Takt vorgeben, was den Trinkrythmus anbelangt, ihr versteht. Ich schaute mir also in tiefer Nacht das Video an, so wie mein Onkel Anto in tiefer Nacht den Gospelkanal zu schauen pflegte, wenn man in sein Wohnzimmer schlich, um noch ein paar Zigaretten zu stehlen, und, wie ihm in jenen Nächten, so liefen auch mir in dieser Nacht die Tränen über die Wangen und perlten wie Tropfen aus Salz auf meine Lippen. Es zerriss mir das Herz, wie diese jungen Frauen und Männer über ihre Heimat sangen, wie sie sie wertschätzten und für sie tanzten. Ich bin empfindlich in solchen Dingen. Was andere als kitschig empfinden, das treibt mir die Tränen in die Augen. Wenn es um die Heimat geht, bin ich ein Emo. Und es gibt unzählige Dinge, die mich an die meine erinnern: Der Geruch von verbranntem Holz an einem Wintermorgen; schon weine ich. Ein Walter Wolf Zigarettenpäckchen; sieh mich weinen. Der Bauer gegenüber düngt sein Feld und ich rieche es; auch dann schiessen mir Tränen in die Augen. Ameisen mit Haarspray und Feuerzeug jagen; die Tränen fliessen.

Es ist ein hartes Los. Wir leben in einer Zeit von Kosmopoliten, von heimatlosen Globalbürgern, die ihre Wurzeln in den Flugzeugen zu schlagen versuchen, in denen sie von Ort zu Ort jetten. Damit will ich nichts zu tun haben. Tut mir Leid S., ich kann dir diesmal nicht dienen.

Ich bin übrigens jetzt gerade nicht betrunken. Vielleicht ein bisschen. Ich war zu Hause, in Bosnien, auch schon mal betrunken... So, schon ist meine Tastatur nass. Gute Nacht, gute Nacht.

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